Fotografieren als performativer Akt der
Verantwortung und des Vertrauens

Text von Christoph Linzbach

Die fotografischen Langzeitprojekte der Nele Herr gründen in ihrem Gespür für die Bedeutung des Miteinanders und des sozialen Zusammenhalts in ihrem eigenen Leben und in unserer Gesellschaft. Sie ist groß geworden in einer Familiengruppe der Albert Schweizer Stiftung, die von ihren Eltern geleitet wurde. Viele Jugendliche lernen erst mit dem Absolvieren eines freiwilligen sozialen Jahres, was soziale Verantwortung bedeutet. Manche haken das Thema gleich wieder schnell ab. Nele Herr wurde für ihr Leben geprägt. Sozial verantwortlich zu denken und zu handeln, ist selbstverständlicher und dauerhafter Bestandteil ihres Verhaltensrepertoires.

Was bedeutet das für Ihre Fotografie? Sie nimmt als Fotografin keine gekünstelte auf Wirkung abzielende Pose oberflächlicher Fürsorglichkeit ein, um das passende Foto zu bekommen, die sie danach als gebraucht und verbraucht wieder ablegt. Nele Herr ist so wie ich sie kennengelernt habe, gar nicht in der Lage, mit Distanz und ohne selbst emotional involviert zu sein, ein sozialdokumentarisches Projekt nüchtern abzuarbeiten. Und sich danach vielleicht mit einer Auftragsarbeit im Bereich der Produktfotografie zu widmen, käme für sie nicht in Frage. Für Nele Herr ist das Fotografieren nicht nur Dokumentation sondern zugleich Bestandteil einer sozialen Handlung, einer Zuwendung an Mitmenschen, die ihr in diesem Moment wichtig sind, an deren Schicksal sie eine Zeit lang teilnimmt und denen sie Zeit, Rat und Hilfe schenkt. Dazu passt auch, dass sie sich einmal in der Woche in einer Obdachloseneinrichtung engagiert. Sie sagt: „Es geht um existenzielle Grundbedürfnisse, aber oft sind Reden und Beratung wichtiger als der volle Magen“

Passgenau zu diesem fotografischen Ansatz kommen auch ihre Projekte zustande. Sie entstehen ungeplant aus Situationen, Begegnungen und Erfahrungen. Offenheit und Vertrautheit erfährt sie in einer allerersten zufälligen Begegnung. Es offenbart sich im Bruchteil einer Sekunde eine Verbindung zu einem Menschen, den sie vorher nicht kannte. Es ist ganz sicher ihre familiäre Prägung, die sie mit einer Antenne für die Befindlichkeiten ihrer Mitmenschen ausgestattet hat. Solche Momente sind nicht geplant, noch lassen sie sich vorausahnen. Es ergeben sich Situationen, die die Möglichkeit eines fotografischen Projektes vage beinhalten. Nicht gleich am Anfang, sondern im Verlauf des Miteinanders mit Menschen, die sie vielleicht verpasst hätte, wenn der Zufall sie nicht an einem Ort zu einer bestimmten Zeit zusammengeführt hätte. Intuitiv und von ihrer sozialen Veranlagung geführt kann sie gar nicht anders, als aus dem ersten von Offenheit und unerklärbarer Vertrautheit getragenen Moment, aus dieser Initialzündung eine tragfähige Begegnung und Beziehung zu entwicklen.

Eines ihrer für mich eindrücklichsten Projekte resultiert aus einem Treffen mit einer älteren Dame. Die Kioskbesitzerin bittet Nele, die Dame nach Hause zu begleiten. Es regnet und die Taschen sind schwer. Sie wird über viele Wochen die Dame regelmäßig besuchen. Sie erfährt von ihrem sterbenden Ehemann und hat Kontakt mit Verwandten, die die Treffen mit Nele Herr mit Argwohn begleiten. Die Gespräche werden intensiver und irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, die Kamera mitzubringen, die bald zur selbstverständlichen Requisite der Besuche wird.

Gerade an diesem Projekt wird die Fragilität ihrer fotografischen Vorhaben deutlich, die in äußeren nicht vorhersehbaren Umständen ebenso liegt wie in dem Momentum, dass in diesem Fall mit dem sich verschlechternden Gesundheitszustand ihrer Gesprächspartnerin einhergeht. Irgendwann ist die ältere Dame im Heim und Nele Herr hat keinen Zugang mehr. Nele Herr geht solche Risiken bewußt ein, gerade weil die Auseinandersetzung mit den Mitmenschen nie nur Mittel zum fotografischen Zweck ist. Mindestens genau so wichtig ist ihr die eigene Erfahrung und die Möglichkeit, anderen zu helfen. Sie erschließt sich mit der Kamera eine zwischenmenschliche Beziehung nicht nur aus dokumentarischen Gründen sprich um anderen zu zeigen, wie es war, sondern um das Gegenüber zu verstehen und ihm gerecht zu werden. Vielleicht kann man so weit gehen, zu sagen, dass ihre Art der Fotografie die Seele des anderen öffnet und ein Teil ausgeübter Empathie ist. Sie fotografiert und berührt damit die eigene Seele und die des Gegenüber. Fotografieren als sozialperformativer Akt oder als eine Form des Trostes, der Unterstützung und der Wertschätzung für den anderen oder die andere.

Ganz klar muss hier die Frage nach dem Scheitern gestellt werden und das macht Nele Herr auch ganz bewußt. In einem formalen Sinne mag dieses Projekt ein kleines Stück weit gescheitert sein, ganz einfach weil der Kontakt unvorbereitet abbrach, aber die vielen Stunden des Austausches bleiben auf der Habenseite ebenso der Trost und die Aufmerksamkeit, die diese ältere Dame von Nele erfahren hat. Für Nele Herr bleibt der Gewinn an Erfahrung, den sie aus dieser Situation für sich gezogen hat, einige Fotos, die sie ohne Zustimmung verwenden kann und die sie zusammen mit der Erzählung ihren Kommilitonen vermittelt. Selbst wenn kein verwertbares weil im materiellen Sinne „vorzeigbares“ Bild „rausgesprungen“ wäre, bleiben die immateriellen Bilder, die sie mit all ihrer Vorstellungskraft und Empathie weiterträgt und die sie als Fotografin für immer prägen und ausmachen. Auch das Scheitern und die nicht gemachten Aufnahmen sind Teil des fotografischen Werkes wohl aller Fotografen. Es gilt die Fragilität des Genres anzunehmen und bereits dem Prozess des Fotografierens Ergebnisqualität zuzubilligen. Nele Herr gelingt dies auf eine für mich mystische Art und Weise.

Das Projekt mit der älteren Dame, dass die Fotografin „Hannelore“ nennt, erzählt vom langsamen Verfall und seinen Begleiterscheinungen, vom Ende des Lebens. Nele Herr hält die Würde einer älter werden Frau aufrecht, gerade in den Momenten, in denen sie selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Das unumkehrbar Erkranken hat für diese Fotografin ein menschliches Maß und damit macht sie die Würde des Menschen auch am Lebensende sichtbar. Nele Herr legt als Pendant hierzu eine Serie vor, die vom Aufbruch, von der Geburt eines Kindes und der Rolle des Vaters in diesem Prozess erzählt. In der modernen Gesellschaft wird dem werdenden Vater bei der Geburt keine aktive Rolle zugebilligt. Der eigenen Erfahrung und Wahrnehmung von Männern bei der Geburt wird kein Raum zur Entfaltung gegeben. Sie sind Dienstleister der Gebärenden. Es wird ihnen die Möglichkeit vorenthalten, die Geburt für sich selbst als Aufbruch zu erleben. Sie dürfen daneben stehen und das Kind einen Moment halten, mehr nicht. Nele Herr beschreibt „das einer Ausnahmesituation Ausgeliefertsein“ mit ihren Fotos ebenso treffend wie mit folgender Anmerkung: „Als Vater bei der Geburt des Kindes dabei zu sein. Das sind Gefühle einer großen Hilflosigkeit und Überwältigung. Ein Ausnahmezustand, geprägt von Angst, Glück und Komik“ In bewußter Umkehr der Bedeutung der Geschlechter bei der Geburt nennt sie das Projekt: „Ein Mann & seine Frau‘ (Oktober 2019), Bremen“. Der Mann und Vater wird zum lächerlich wirkenden Assistenten in einer Situation, die für ihn folgenschwer ist. Er wird verstrickt in eine neue Rolle. Gesellschaft, Frau und Kind erwarten von ihm Verantwortungsübernahme. Eine Aufgabe, die er aber nur leisten kann, wenn er mit Zuversicht, nicht ohnmächtig sondern ermächtigt mit eigenen Kompetenzen ausgestattet Verantwortungsträger wird. Das scheint mir die zentrale Botschaft dieser Serie zu sein. Ihre Projekte sind also weit mehr als schlichte Narrative von Anfang und Ende unseres Lebens, sondern erzählen von elementaren Rollen, die uns das Leben zuweist, von Würde, Respekt und Verantwortung in besonderen Lebenssituationen. Das macht ihre Arbeit gesellschaftlich so wertvoll.

Ein drittes Projekt handelt von einem LKW Fahrer, den Nele Herr auf seinen Fahrten begleitet hat. Ein Mann mitten im Berufsleben, der sein Leben auf der Strasse mit allen Belastungen und Vorzügen reflektiert. Nele Herr läßt ihn in Begleittexten selbst zu Wort kommen. Kleine Monologe, Selbstgespräche und doch an die Welt gerichtet. Er ist „systemrelevant“ wie man in unserer entmenschlichten Coronasprache sagen würde und verlangt Anerkennung. Er ist gerne Lastwagenfahrer, liebt die Strasse und kommt mit Stress des Fahrens besser zurecht als mit dem Ärger „an der Heimatfront“ wie er es vielleicht sagen würde und ganz sicher denkt. Die Angst oder vielleicht die Sorge, auch die der eigenen Frau, fährt immer mit, auch wenn er die eigene Furcht leugnet, ebenso wie das Bewusstsein von Fremdausbeutung und Selbstausbeutung.

Die Fotografien dieses Langzeitvorhabens bebildern nicht die Texte und die Texte sind keine nachträglich hinzugedichteten Inhalte, die die Bilder sprachlich wie Aufkleber illustrieren sollen. Texte und Bilder stehen eigenständig und doch beziehungsvoll nebeneinander. Bilder und Gedankensplitter formen eine fotografische Erzählung, die rund wird, wenn man sich die ganze Strecke vor Augen führt. Die Fotografin nimmt Teil am Leben eines Menschen; eine lange Zeit lang. Sie gibt dem Lastwagenfahrer mit ihren Fotos eine Bühne. Sie zeigt ihn wie er sich sieht, auch in seinen eignen Anmerkungen. Text und Bilder fügen sich in ihren Projekten auf unterschiedliche immer passende Weise zusammen.

Im Kern handelt das Projekt aber von weit mehr als nur einem Fahreralltag. Es handelt von Vertrauen zwischen einer Fotografin und einem LKW-Fahrer, das sukzessive zu einem zweiten wichtigen Thema des Projektes wird und nicht „nur“ Voraussetzung bleibt. Vertrauen in die Aufrichtigkeit des anderen, das von Beginn des Projektes an vorhanden gewesen sein muss, so mein Eindruck, ist durchgängig zu spüren. Vertrauen ist die Währung einer intakten Beziehung zwischen den Partnern eines fotografischen Projektes. Das wird in diesem Vorhaben besonders anschaulich. Der LKW-Fahrer gibt viel von sich selbst preis und läßt gleichzeitig ungestellte Aufnahmen von seiner Person zu. Anders ausgedrückt: Er kontrolliert nicht die Situation und die Fotografin muss bei ihren Aufnahmen keinen Preis für eine Kontrolle zahlen, die ihre Möglichkeiten beschneidet. Hier ist kein Sand spürbar im Getriebe der Beziehung zwischen Fotografin und Fotografierten. Intuitiv nimmt der LKW-Fahrer wahr, dass die Fotografin sich ihrer Verantwortung, die sie mit dem Erzählen seiner Geschichte übernimmt, sehr bewußt ist. Bemerkenswert finde ich ebenfalls, dass der Fahrer sich auch auf die Erzählweise der Fotografin einläßt, die nicht schlicht dokumentarisch und damit leicht nachvollziehbar funktioniert sondern assoziativ und von Stimmungen getragen ist, die also von dem Betrachter eine Interpretationsleistung erfordert. Ich denke die Verwendung der Gedankensplitter machen das Projekt für den Fahrer zugänglich. Ebenso erkennt er sich in den Stimmungen wieder, die die Bilder seines Gefährts, seines Objektes der Identifikation vermitteln. Nele Herr sieht in dem LKW-Fahrer nicht das Objekt eines Projektes, sondern macht ihn zum teilhabenden Subjekt mit dem Recht auf Mitgestaltung in der Art und Weise wie sie das Vertrauensverhältnis und das Zeitmiteinanderverbringen ausgestaltet. Projektgestaltung ist bei ihr auch Vertrauensarbeit und Vertrauen wird - wie gezeigt - damit zu einem Projektthema.

Das läßt sich auch an einem vierten Projekt zeigen, das von einem älteren Mann erzählt, den verstörende Kindheitserlebnisse ein Leben lang begleiten. Hier gibt es zwei Ebenen der Bearbeitung und des Aufgreifens des Themas Vertrauen. Einmal wie bei ihren anderen Projekten steht das Vertrauen zwischen Fotografin und Fotografiertem, dass ihre Projekte erst ermöglicht und sich zunehmend thematisch im Projekt selbst manifestiert. Thematisch im Vordergrund dieses fotografischen Vorhabens steht allerdings der basale Vertrauensbruch zwischen einem Kind und einer Mutter. Ein Vertrauensbruch, der einen Menschen ein Leben lang begleitet und wohl nicht aufzuarbeiten ist, oder den man vielleicht nie versucht hat, aufzuarbeiten. Sie zeigt einen älteren Menschen, der Kindheitserinnerungen der Ablehnung und des Verlust aufruft und ihnen an verschiedene Orten nachspürt. Sie vielleicht auch erneut erleidet. Er wirkt erschöpft vom lebenslagen Tragen der Last, die ihm eine Mutter auferlegt hat, die ihn nie haben wollte.

Nele Herr liefert eine Fotografie ab, die auf der Oberfläche und auf den ersten Blick sozialdokumentarisch erscheint, durch ihren subjektiven, assoziativen und teilhabenden Ansatz, durch ihre der Humanität verpflichteten Haltung eine enorme Tiefe gewinnt. Ihr Geheimnis ist das Vertrauen zu den Partnern sprich zu den Menschen, mit denen sie gemeinsam die Projekte lebt und gestaltet. Eine solche Qualität des Vertrauens kann nur dann zustande kommen, wenn von der Fotografin Sprechen, Gestik und Handeln in einem stimmigen performativen Akt vollzogen werden, der bei dem Gegenüber zu keinen Zeitpunkt ein Gefühl von Dissonanz aufkommen läßt. Nele Herr handelt mit Worten und Gesten. Sie muss das Wort "Vertrauen" nicht aussprechen, um es beim Gegenüber zu gewinnen. Sie gewinnt Vertrauen mit ihrer ganzen Persönlichkeit und der Art wie sie mit Sprache und Gesten zu handeln versteht. Das Fotografieren ist ein Teil ihres Vertrauen schaffenden Verhaltensrepertoires. Das Gestalten der Beziehung zu den Fotografierten im Zeitverlauf ist ein wichtiges Ergebnis ihrer Projekte. Nele Herr dokumentiert äußere Vorgänge untrennbar verbunden mit dem, was im Inneren eines Menschen vorgeht, seine innere Verfasstheit. Beides ist auf ihren Fotos zu sehen; ohne große Gesten, ohne Theater und Inszenierung. Ihr Begleittext zu dem Projekt Hannelore ist ein kleines Kunstwerk.

Nele Herr studiert Fotografie an der Fachhochschule in Dortmund. Sie hat wie viele ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen erfahren, welch negative Auswirkungen ein Virus auf ein Studienfach hat, dass von der Präsens und dem unmittelbaren Austausch der Studierenden und Dozenten lebt, wie kaum ein anderes. Es werden coronabedingt zwei Semester auf dem Weg zum Bachelor gutgeschrieben, aber das ist nur ein schwacher Trost für die verlorene Zeit.

NELE HERR